von Dr. Eckart von Hirschhausen
Nordic Walken ist in, es schont so schön die Gelenke. Belastet werden nur die Zwerchfelle von allen, die uns unfreiwillig dabei betrachten müssen. Seien wir ehrlich, es sieht bescheuert aus. Dabei ist die Grundidee ja richtig : Ein Marketingexperte einer finnischen Sportartikelfirma dachte lange dar über nach, ob es einen Weg gibt, auch im Sommer Skistöcke zu verkaufen. Und richtig: Er erfand Nordic Walking und macht seitdem Millionen, weil Millionen es machen. Der Deutsche wandert nicht mehr über Stock und Stein, sondern verstockt auf Asphalt. Skifahren ohne Skier. Statt Schuss beim Abfahren jetzt Langlauf ohne Loipe – wie abgefahren ! Gegen Gehen hat ja niemand was. Aber Walkern kannst du ja momentan noch nicht mal mehr aus dem Weg gehen – sie sind überall. Nicht schnell, aber viele. Wenn du versuchst, zwischen ihnen mit dem Fahrrad Slalom zu fahren, wisse, sie boykottieren bewusst die Erfindung des Rades. Achtung: Sie sind bewaffnet. Der Stock ist ganz schnell zum Speer umfunktioniert. Also Vorsicht.
Ich hab wirklich nichts gegen mehr Bewegung, im Gegenteil. Die Knie schonen zu wollen ist auch nicht verkehrt. Hätte Gott wirklich gewollt, dass wir aufrecht gehen, hätte er uns bessere Knie gegeben. Was uns ab 40 in die Knie zwingt, sind: die Knie!
Noch besser als Nordic Walken soll ja deshalb auch Bladen sein. Also Rollen. Inline-Skaten.Statt die Gelenke mühselig beim Laufen über Jahre zu verschleißen, reicht jetzt ein einziger Sturz, und die Knie sind im Arsch. Entschuldigen Sie den Ausdruck, aber angesichts der Geschwindigkeiten auf Rollschuhen ist das sogar anatomisch korrekt. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe es ausprobiert. Gesundheitsbewusst, wie ich bin, versuchte ich durch die richtige Ausrüstung Risiken zu minimieren und trug Schoner über Ellenbogen, Knien und Handgelenken. In voller Montur inklusive Helm bist du allerdings praktisch bewegungsunfähig und daher ausschließlich auf die Rollen angewiesen. Ein Teufelskreis.
Das Prinzip der Rolle zur leichteren Bewegung von Lasten ist mir durchaus vertraut. Vom Möbeltransport. Aber bei den Schuhen, die ich anprobiere, sind die Rollen nicht etwa sorgsam klein und in allen vier Ecken verteilt. Nein. Die Hersteller tun alles dafür, einen festen Stand zu vereiteln: große glatte Rollen, und alle in einer Schusslinie! An jedem Kinderwagen sind Bremsen vorgeschrieben. Nur Erwachsene meinen, sich noch unter das Niveau von Krabbelkindern begeben zu müssen, indem sie sich ungebremste Rollen unter die Füße schnallen.
Zugegeben: Der rechte Schuh hat am Hacken einen kleinen Gummipfropfen, den sogenannten Stopper. Eine kleine Überschlagsrechnung: Wie realistisch ist es, 85 Kilo Körpermasse, die durch ein Gefälle von 5 Prozent auf 45 Stundenkilometer beschleunigt wurde, durch sanften Druck auf eine Fläche von der Durchschlagskraft eines Radiergummis zu « stoppen » ? Ein Pfropfen auf den heißen Stein. Da bekommt Überschlagsrechnung eine neue, ganz konkrete Bedeutung.
Das Trügerische: Ich will ja gar nicht anhalten, denn Stehen ist auf den Dingern viel schwerer, als in Bewegung das Gleichgewicht zu halten. Besser gesagt : das Gleichgewicht zu « variieren ». Ein paar Schlittschuhschritte, und ich rolle. Nach den ersten Schrecksekunden stellt sich plötzlich ein Gefühl tiefer Genugtuung ein. Ich spüre: Das Ziel der Evolution ist erreicht. Aufrechter Gang war gestern. Die Neuzeit gleitet auf Rollen. Unaufhaltsam. Leichtigkeit, Anmut, Grazie. Alles strahle ich aus. Ich täusche mich.
Nicht aber die Menschen, die mir entgegenkommen. Sie wissen um die Gravitationskräfte hinter meiner Grazie, schauen mitleidig – und wechseln die Straßenseite. Noch besser Hunde. Sie wittern kilometerweit den Grad deiner Inkompetenz und wissen: Gleich bist du wieder auf einer Ebene mit ihnen – auf allen vieren.
Beim Autofahren hofft man ja, im Falle des Kontrollverlusts möglichst auf KEIN Hindernis zu prallen. Beim Bladen ist es genau umgekehrt. Ich suche aktiv Hindernisse, um die Kontrolle wiederzuerlangen.
Woran festhalten? Baum oder Gebüsch ? Zaun oder Laterne ? Ich nehme ein Taxi. Keine bewusste Entscheidung. Es steht plötzlich vor mir, ich bretter hin ein und klammer mich reflexartig oben am Taxi-Schild fest. Der Taxifahrer gibt in Panik Vollgas. An der nächsten roten Ampel erspähe ich einen Gullydeckel und lasse mich fallen. Perfekt.
Ein Rums, und die Rollen stecken im Kanalgitter, so fest, dass sich die Schuhe nie wieder rühren können. Geschafft. Ich laufe barfuß heim, jede Zehe Bodenhaftung, ein Genuss. Die Erde hat mich wieder. Das Laufen auf zwei Beinen braucht keine evolutionäre Weiterentwicklung. Artenschutz gilt nicht für Trendsport-Arten, einige dürfen ruhig wieder aussterben. Mir reichen als technologische Errungenschaft des 20. Jahrhunderts: Socken mit Gumminoppen.
(Veröffentlichung aus “Die Leber wächst mit ihren Aufgaben” mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Taschenbuch Verlags und HERBERT Management)